Das Schienennetz der Zukunft entsteht in Norwegen
„Das Testen ist das A und O für das sichere Realisieren unserer Infrastrukturprojekte. Daher ist das neue Testcenter in Nyland ein so wichtiger Meilenstein für unser Jahrhundertprojekt mit Bane NOR“, sagt Wolfgang Rüprich, Gesamtprojektleiter bei Siemens Mobility Management, zur Eröffnung am 31. Oktober 2019. Die Stellwerks- und ETCS-Technologie wird in einer nachgestellten Testumgebung eingehend geprüft, um Norwegen bis 2034 mit dem modernsten, datengestützten Bahnnetz Europas auszustatten.
Die Dimensionen lassen erkennen, dass dies eine Aufgabe für Generationen von Siemens Mobility-Mitarbeitern sein wird: rund 4.200 Streckenkilometer mit mehr als 350 norwegischen Bahnhöfen werden mit dem europäischen Zugleitsystem ETCS Level 2 ausgerüstet. Zum Lieferumfang von Siemens Mobility Management gehören 4.200 Weichenantriebe, mehr als 7.000 Achszähler, und 10.000 Eurobalisen. Mehr als 400 Bahnübergänge werden erneuert, hinzu kommt ein Wartungsvertrag über 25 Jahre, beginnend mit der Inbetriebnahme der letzten Strecke im Jahr 2034. Der Auftragswert beläuft sich auf insgesamt rund 800 Millionen Euro.
Die Investition in ETCS ist zukunftsweisend und bisher beispiellos
Dank ETCS Level 2 können die Norweger zukünftig – wie beispielsweise auf der deutschen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Leipzig und Nürnberg – auf streckenseitige Signale verzichten. Rüprich ist überzeugt: „Dies vereinfacht die Wartung gegenüber konventionellen Zugleitsystemen deutlich. Zug und Strecke kommunizieren per Funknetz. Der Zugführer bekommt alle relevanten Informationen ständig direkt im Fahrerstand angezeigt. Für die Nutzer des norwegischen Schienennetzes, sowohl im Passagier- als auch im Güterverkehr, bedeutet dies eine höhere Zugfolge und bessere Verfügbarkeit: mehr Fahrzeuge können in engerem Abstand das vorhandene Netz nutzen.“
Ein weiteres Plus: Norwegen wird damit Anschluss an das gesamteuropäische Bahnnetz der Zukunft erhalten. ETCS-geführte Züge werden dann von Sizilien bis Norwegen fahren können, ohne unterwegs die Lokomotiven aufgrund nationaler Zugbeeinflussungssysteme tauschen zu müssen.
Ein echtes Internet der Dinge
„Manche Teilstrecken in Norwegen werden noch vollständig manuell befahren, ohne Zugleitsystem. Gemeinsam mit Bane NOR werden wir das gesamte norwegische Schienennetz in ein voll digitalisiertes, IP-basiertes System transformieren – ein echtes ‚Internet der Dinge‘“, freut sich Rüprich. Bane NOR wird über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als zwei Milliarden Euro in die Digitalisierung und Automatisierung des Schienennetzes investieren. Dies ist Teil der ERTMS-Initiative (European Rail Traffic Management System) des Unternehmens. Das Ziel: eine führende Rolle Norwegens in der Nutzung digitaler Technologien im Bahnsektor mit dem modernsten Schienennetz Europas. Hinter diesem ehrgeizigen Vorhaben steht auch die Politik des Landes in Europas Norden. Bei der Einweihung anwesend war daher unter anderem Nikolai Astrup, Digitalisierungsminister von Norwegen. „Eine Investition dieser Größenordnung ist extrem selten. Es ist ein Glücksfall, an diesem Projekt mitarbeiten zu dürfen. Darüber hinaus macht die offene und sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kunden und im Projektteam einfach Spaß“, berichtet Rüprich, der nach Norwegen delegiert ist, aber mindestens ebenso oft an den Siemens Mobility-Standorten Braunschweig und Berlin für Bane NOR arbeitet.
Das sieht auch der Kunde so: „Siemens ist der wichtigste Lieferant für das norwegische ERTMS-Programm. Mit Funkstreckenzentrale (RBC) und IP-basierter Systemarchitektur bietet das Unternehmen eine Lösung der Spitzenklasse. Die herausragende technische Expertise und erwiesene Lieferfähigkeit haben uns davon überzeugt, dass Siemens der ideale Partner für uns und dieses herausfordernde Projekt ist. Wir sind hocherfreut, gemeinsam mit Siemens ein digitales Schienennetz entwickeln zu können“, sagt Sverre Kjenne, stellvertretender Generaldirektor für Digitalisierung und Technologie bei Bane NOR.
„Siemens bietet für das norwegische ERTMS-Programm eine Lösung der Spitzenklasse. Die herausragende technische Expertise und erwiesene Lieferfähigkeit haben uns davon überzeugt, dass Siemens der ideale Partner für uns und dieses herausfordernde Projekt ist.“Sverre Kjenne, stellvertretender Generaldirektor für Digitalisierung und Technologie bei Bane NOR
Neues Test- und Trainingscenter
So freuen sich Bane NOR, Thales (Auftragnehmer für das Traffic Management System (TMS), Alstom (Auftragnehmer für ETCS Onboard-Units (OBU) und Siemens gemeinsam, einen wichtigen Meilenstein pünktlich erreicht zu haben: Am 31. Oktober 2019 eröffneten die Unternehmen offiziell das Test- und spätere Trainingscenter „Campus Nyland“ in Grorud, einem Vorort Oslos. „Heute in genau drei Jahren soll die Nordlandsbanen erstmals mit der neuen Technologie befahren werden. Aus diesem Grund ist der 31. Oktober für unser Projekt sehr symbolträchtig“, erklärt Rüprich bei der Eröffnungsfeier.
Digitaler Zwilling der Eisenbahninfrastruktur
Das Testzentrum ist bereits in Betrieb und enthält das zentrale Stellwerk nebst Zugkontrollsystem ETCS (European Train Control System) und weiteren Teilsystemen. In der ersten Phase wird das generische System getestet: „Bevor wir in Betrieb gehen, müssen wir alle Systeme in punkto Sicherheit auf Herz und Nieren prüfen und sämtliche Szenarien durchspielen. Und das können wir hier im Testlabor“, sagt Rüprich. Einige Tests finden im baugleichen Siemens-Testzentrum in Braunschweig statt. Dem Kunden sei es jedoch wichtig gewesen, so Rüprich, ein eigenes Kompetenzzentrum im Land zu erhalten.
Und die Außenanlagen und echten Strecken? Die simuliert das Projektteam digital mit Hilfe der BIM-Technologie (Building Information Modeling), also mittels eines digitalen Zwillings. Rüprich erklärt, wie es funktioniert: „Zunächst scannen wir die Eisenbahninfrastruktur mit Hilfe von Kameras, Lidar – einer Art dreidimensionaler Radar – und GPS, angebracht an einer modifizierten Lokomotive. Mit diesen Daten erstellen wir ein digitales Gleislayout, das wir in unsere Engineering-Tools übertragen.“ In der zweiten und letzten Testphase prüft das Team die Technologien direkt auf der Schiene beziehungsweise an den einzelnen Bahnhöfen.
Wie geht’s weiter?
Das Nyland-Trainingszentrum wird seine Türen im Herbst 2021 öffnen, damit dort das Wartungspersonal des Kunden rechtzeitig zur Einführung der neuen Technologie geschult werden kann. Der Clou: Das Trainingszentrum ist nicht, wie andernorts üblich, unter freiem Himmel errichtet, sondern witterungsfest von einer Halle umschlossen. Auf ca. 900 Quadratmetern befinden sich dort Gleise, ein Bahnhof und alles, was sonst noch zu Schulungszwecken benötigt wird. Darin werden die Trainings 12 Monate im Jahr und bei jedem Wetter stattfinden können.
Schritt für Schritt wird Siemens das gesamte norwegische Eisenbahnnetz digitalisieren und sukzessive das Personal des Kunden schulen. "Norwegen ist auf dem Weg, als erstes Land das Prinzip ‘one country, one interlocking‘ (ein Land, ein Stellwerk) zu verwirklichen und so Vorreiter bei der Digitalisierung zu werden. Unsere intelligente Infrastruktur sorgt für einen effizienten Betrieb des Systems. Das digitale Stellwerk mit IP-gesteuerten Feldkomponenten und ERTMS ist das Rückgrat, um Betrieb und Wartung erheblich zu verbessern. Diese Architektur öffnet auch die Tür für künftige Entwicklungen wie die Implementierung autonomer Technologien oder das Verschieben des Stellwerks in die Cloud. Spezielle Hardware und Ersatzteile würden so zu einem Relikt der Vergangenheit werden und Daten für Betreiber sofort verfügbar machen. Campus Nyland ist für Bane NOR ein wichtiger Meilenstein bei der Verwirklichung dieser Vision”, sagt Michael Peter, CEO von Siemens Mobility.
Norwegen wird mit den Systemen Trackguard Simis W, Trackguard RBC und Trackguard Sinet eine neuartige, auf den europäischen EULYNX-Spezifikationen fußende, Lösung nutzen, welche Deutschland bereits in einer Vorversion einsetzt. Siemens ist in dieser Technologie weltweit führend. Bei Trackguard Sinet kommunizieren das Stellwerk und die Feldelemente IP-basiert – also in einem Internet Protokoll-basierten Netzwerk, beispielsweise über Glasfaser – miteinander. Die Folge: Sicherungstechnik benötigt viel weniger teures Kupferkabel. Dadurch lässt sich unter höchsten Sicherheitsstandards die gesamte Stellwerkstechnik des Landes zentralisieren. Eine vollumfängliche, dezentrale und somit kostspieligere Infrastruktur ist nicht mehr notwendig. Gleichzeitig lassen sich die Betriebsdaten aus der IP-Infrastruktur –sicher vor unbefugten Eingriffen – nutzen, um vorausschauende Wartung zu ermöglichen. Und sie ermöglichen dem Kunden ganz neuartige Anwendungen für den öffentlichen Reiseverkehr der Zukunft.
Mit der einheitlichen Europäischen ETCS Level 2 Technologie digitalisiert Siemens Norwegens Signaltechnik im Bahnnetz. Der Auftrag umfasst das komplette Signalsystem mit Stellwerk, ETCS-Level-2-System, Weichenantrieben, Gleisfreimeldeeinrichtungen, Bahnübergängen sowie die dazugehörigen Streckeninfrastruktur. Die Installation erfolgt bei laufendem Betrieb. Als erste Bahnstrecke wird die Nordlandsbanen mit dem neuen
Signalsystem ausgerüstet, diese soll 2022 den Betrieb aufnehmen. Die Einführung
im Großraum Oslo ist für 2026, die Fertigstellung für das Gesamtstreckennetz ist für 2034 geplant.
Siemens Mobility erstellt für Bane NOR einen digitalen Zwilling des norwegischen Eisenbahnnetzes mit der Plattform BIM360. Mit Hilfe von Kameras, sogenanntes Lidar– eine Art dreidimensionaler Radar –und GPS scannt eine modifizierte Lokomotive die Eisenbahninfrastruktur. So bestimmt das Projektteam den Standort verschiedener Systemkomponenten in einer digitalen Punktewolke, erstellt ein Systemlayout und ein 3D-Modell. Die darin bereitgestellten Daten können in Engineering-Tools übertragen werden, was dem Kunden bei der Planung des neuen ERTMS-Systems hilft. Im Fokus: die Entwicklung einer Funktion für die erweiterte, realitätsgestützte Arbeit vor Ort. Damit kann das Wartungspersonal Komponenten leichter identifizieren und völlig papierlos arbeiten.
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