Das neue druckluftfreie Bremssystem der Siemens Bremse

Mit dem neuen druckluftfreien Bremssystem wird erstmalig eine vollständig elektrische Ansteuerung der Reibungsbremse in Schienenfahrzeugen realisiert (brake-by-wire), weshalb es auch als elektrische Reibungsbremssystem bezeichnet wird. Damit ist das Bremssystem im Fahrzeug komplett unabhängig von Druckluft. Neben diversen technischen Vorteilen reduziert sich durch die neue Bremse das Fahrzeuggewicht und das Fahrzeug ist schneller einsatzbereit, wie uns Robert Steinfelder und Jens Lichterfeld im Interview mitteilten. Beide sind maßgeblich für die Entwicklung und Markteinführung der innovativen Siemens Bremse verantwortlich.

Herr Steinfelder, bei der Siemens Bremse werden seit Jahren pneumatische Bremssysteme in verschiedensten Siemens Mobility-Projekten erfolgreich realisiert. Mit dieser Lösung haben sie nun ein neues und innovatives Bremssystem im MoComp Portfolio. Wie kam es dazu?

Robert Steinfelder: Wir, als Siemens Bremse sind seit 2003 eine eigenständige Abteilung innerhalb der Siemens Mobility und arbeiten sehr eng mit dem Fahrzeug-Engineering und der Inbetriebsetzung der Rolling Stock zusammen. Mit dem ersten U-Bahn-Projekt, dem V-Wagen in Wien, haben wir uns über die letzten 18 Jahre in allen Metro-Projekten als interner Systemlieferant etabliert.

In dieser Zeit konnten wir sehr viele Erfahrungen mit pneumatischen Bremssystemen sammeln und haben mit dem Blickwinkel eines Fahrzeugbauers weitere systemübergreifende Synergien realisiert. Nach der jahrelangen Optimierung der herkömmlichen Druckluftbremse war es aus unserer Sicht dann aber an der Zeit für etwas Neues, für einen Technologiesprung, eine echte Innovation im Bereich der Bremssysteme für Schienenfahrzeuge.

Mit dem Technologiesprung meinen Sie die neue druckluftfreie Bremse? Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Jens Lichterfeld: Im Vergleich zur klassischen Druckluftbremse erfolgt die Ansteuerung der Bremse rein elektrisch, „brake-by-wire“, wodurch auf die Verrohrung und alle pneumatischen Komponenten zur Ansteuerung der Bremse vollständig verzichtet werden kann. Die Bremskraft wird direkt im Bremsaktuator erzeugt. Dafür wurde ein kompakter, abgeschlossener elektrohydraulischer Bremsaktuator inklusive aller notwendigen Komponenten zum Druckauf- und Abbau sowie zur lokalen Steuerung gemeinsam mit der im Luftfahrtbereich sehr erfahrenen Firma Liebherr entwickelt. Der Bremsaktuator ist im gleichen Bauraum und mit den gleichen mechanischen Schnittstellen wie die klassische Druckluftbremszange im Fahrwerk integriert. 

Wir sind sehr stolz mit unserem neuen innovativen Bremssystem mehr als eine Alternative zu herkömmlichen Druckluftbremssystemen entwickelt zu haben und somit ein echtes Alleinstellungsmerkmal für unsere Kunden geschaffen zu haben.
Robert Steinfelder, Vice President Siemens Brakes, Siemens Mobility GmbH, Erlangen

Die Druckluftbremse wird bereits seit 150 Jahren in Schienenfahrzeugen genutzt, spricht denn da zukünftig etwas dagegen?

Robert Steinfelder: Grundsätzlich spricht nichts gegen eine Druckluftbremse. Diese hat sich seit Jahrzehnten bewährt, wurde über die Zeit ständig verbessert und wird auch zukünftig in Schienenfahrzeugen eingesetzt werden. Unser Ziel war es mit dem Technologiesprung ein Alleinstellungsmerkmal für Siemens Mobility zu generieren, da die Druckluftbremse aus unserer Sicht bezüglich weiterer Optimierungen an ihren Systemgrenzen angelangt ist.

Wozu brauche ich denn überhaupt noch eine Reibungsbremse? Reicht die elektrodynamische Bremse über den Fahrmotor nicht aus?

Jens Lichterfeld:  Auch bei vorrangiger Benutzung der elektrodynamischen Bremse im Betrieb benötigt man die Reibungsbremse, um den Zug sicher zum Stillstand zu bringen und zu halten. Die elektrodynamische Bremse kann dies über den Fahrmotor nicht gewährleisten. Außerdem muss die Reibungsbremse den Zug auch nach Abstellen und Ausschalten in allen möglichen Gefällen des Betreibernetzes sicher halten.

 

Werden denn die hohen Sicherheitsanforderungen für Bremsen in Schienenfahrzeugen mit der neuen Technologie erfüllt?

Robert Steinfelder: Selbstverständlich! Wir haben bei der Entwicklung die höchsten Sicherheitsanforderungen bzw. Sicherheitsintegritätslevel, bis zu SIL4, und die neusten Regeln der Sicherheitsnachweisführung zu Grunde gelegt. Beginnend mit der Zugebene wurden diese auf die einzelnen Komponenten des Bremssystems wie den Bremsaktuator und das Bremssteuergerät heruntergebrochen und umgesetzt. 

Was bedeutet der Einsatz des neuen Bremssystems für das Fahrzeug und den Betrieb?

Jens Lichterfeld: Durch den Einsatz der neuen druckluftfreien Bremse ergeben sich auf Fahrzeugebene grundsätzlich verschiedene Vorteile wie Einsparungen beim Gewicht oder den Aufwänden für die Montage und Inbetriebsetzung des Bremssystems. Hinzu kommt, dass der Bauraum, der bisher von den Komponenten der konventionellen Druckluftbremse benötigt wurde, für andere Gewerke verwendet werden kann, was bei der Entwicklung des Fahrzeugs extrem hilfreich ist.

Im Betrieb können in verschiedenen Bereichen Aufwände reduziert werden. Das betrifft nicht nur die Wartungsaufwände des Bremssystems, sondern auch die Aufrüstzeiten des Zuges und damit die Zeit, die ein Betreiber einplanen muss, bevor der Zug in Betrieb geht. Das bedeutet entweder, der Fahrer kann den Zug wesentlich später besetzen, um diesen fahrbereit zu machen oder der Zug ist in einem automatisierten System in der „rush hour“ deutlich schneller und damit flexibler einsatzbereit.

Mit dem Trend zur Automatisierung bzw. Teilautomatisierung des Zugbetriebes ergeben sich noch weitere Vorteile für den Betrieb. Einerseits im Bereich der Anhaltecharakteristik und Haltepunktgenauigkeit, die vergleichbar mit der elektrodynamischen Bremse ist. Andererseits kann die Taktzeit verkürzt werden, da die Bremse wesentlich schneller lösen kann und damit der Zug nach Schließen der Türen bis zum tatsächlichen Bewegen deutlich weniger Zeit benötigt. Bei Taktzeiten von 60 bis 90 Sekunden ist die Einsparung von mindestens einer Sekunde eine wesentliche Verbesserung. Somit können über den Tag gesehen im realen Betrieb künftiger Serienprojekte mehr Züge eingesetzt werden.

Im Vergleich zur klassischen Druckluftbremse erfolgt die Ansteuerung der Bremse rein elektrisch, „brake-by-wire“. Somit können wir auf die Verrohrung und alle pneumatischen Komponenten zur Ansteuerung der Bremse vollständig verzichten.
Jens Lichterfeld, Senior Expert Brakes, Siemens Mobility GmbH, Erlangen, Germany

Die Wiener Linien haben mit dem X-Wagen das erste Serienprojekt für die druckluftfreie Bremse – wie war der Weg dahin und wie geht es voran?

Robert Steinfelder: Wir haben die druckluftfreie Bremse als System ja über viele Jahre entwickelt und ausführlich getestet. Vor dem ersten Serieneinsatz auch mit einer entsprechenden Erprobung im Fahrgastbetrieb, d.h. wir haben das System intensiv vorab getestet und auf Herz und Nieren geprüft. Alle Erkenntnisse aus der mehrjährigen Erprobung im harten Fahrgastbetrieb sind in die finale technische Lösung eingeflossen, um für das erste Serienprojekt auch eine ausgereifte Lösung liefern zu können.
Wir haben im Oktober 2020 mit der dynamischen Inbetriebsetzung des ersten sechsteiligen Metrozugs begonnen und wir gehen davon aus, dass der X-Wagen ab 2022 im Fahrgastbetrieb eingesetzt werden kann.

Dann können die Wiener Linien als erster Verkehrsbetrieb weltweit von den Vorteilen unseres Bremssystems profitieren, sowohl im konventionellen Betrieb mit Fahrern, als auch später im automatischen Betrieb auf der neuen Linie U5.

 

Das Projekt in Wien bleibt sicherlich nicht das einzige Projekt - Wie geht es in den nächsten Jahren denn weiter?

Robert Steinfelder: Wir sind überzeugt, dass in den nächsten Jahren weitere Kunden in den Genuss der Vorteile der neuen druckluftfreien Bremse kommen werden.

Natürlich arbeiten wir daran, neben Lösungen für Metros wie dem X Wagen Wien auch weitere Anwendungen wie Vollbahnzüge zu bedienen. Um dies zu ermöglichen ist es nötig, dass Kunden und Betreiber in zukünftigen Ausschreibungen nicht wie gewohnt ein pneumatisches Bremssystem spezifizieren, sondern ihre Lastenheftanforderungen künftig funktional, d.h. technologieneutral formulieren.